Migration damals und heute

Migration sei der «Normalfall», schreibt der Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber. Tatsächlich gab es schon immer Wanderungen. Und seit je gibt es für Auswanderung attraktive Regionen und auf Einwanderung angewiesene Gebiete. Der «Normalfall» zeigt sich auch im bündnerischen Hochtal Avers. Ein Blick sowohl in die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart des Tals zeigt im Kleinen, was sich gegenwärtig im Grossen abspielt.

Damals wie heute, hier wie dort folgt die Migration denselben Mustern.

  • Die Motive zur Auswanderung bleiben die gleichen. Häufig zwingt die Armut dazu, das Glück in reicheren Ländern zu suchen. Manchmal ist es der Abenteurergeist, der zum mutigen Aufbruch drängt. Ab und an können private Sorgen der Auslöser für eine Flucht nach vorn sein. Einige gehen fort, weil sie sich aus ihrer angestammten Kultur befreien wollen.
  • Die Form der Wanderung ist heute dieselbe wie anno dazumal. Häufig folgt sie dem Muster der so genannten Kettenwanderung, wonach die Auswandererinnen und Auswanderer einem Pionier in ein Land oder eine Region folgen. Meistens sind es Verwandte, Bekannte oder Nachbarinnen, die im Zielland die Voraussetzungen schaffen, damit andere nachkommen können.
  • Eine positive, damals wie heute bestehende Konsequenz der Auswanderung sind die Überweisungen an die Zuhausegebliebenen, sei es in Form von Geld oder Naturalien. Manchmal sparen sich die Ausgewanderten die Rücküberweisungen vom Mund ab, manchmal investieren sie in ihrer Heimat für ihre eigene Rückkehr. So oder so sind heutzutage viele Länder auf die so genannten Rimessen angewiesen.
  • Eine negative, damals wie heute bestehende Konsequenz der Auswanderung ist die Entvölkerung von Dörfern und manchmal ganzen Regionen. Die gegenwärtige politische Diskussion über das Mass von Zuwanderung lässt ausser Acht, dass in den Alpen bald ganze Täler ausgestorben sein könnten.
 

Aus und ein im Avers

Wie so viele Regionen in den Alpen war und ist das Hochtal von Entvölkerung bedroht. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts hat die Bevölkerung im Avers stetig abgenommen. Gleichzeitig haben saisonale, temporäre und permanente Einwanderungen dem Trend entgegengewirkt. Ohne Einwandererinnen und Einwanderer wäre das Tal wahrscheinlich entvölkert.

Die Geschichte des Aus und Ein im Avers:

 

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Grafik: Schaubild Walser Wanderung

Im 10. Jahrhundert wohnten im Avers Romanen. Ab dem 13. Jahrhundert begannen Walser das Tal zu besiedeln.

 

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Anders als in anderen Regionen Graubündens verliessen nur wenige Männer das Tal, um als Söldner unter europäischen Herrschern zu dienen oder als Steinmetze am Bau von Kathedralen oder Palästen mitzuwirken.

 

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Schweiz. Nationalbibliothek, Eidg. Archiv für Denkmalpflege: Archiv Photoglob-Wehrli

Während Jahrhunderten wanderten jeweils im Sommer Bergamasker Hirten mit ihren Tausenden von Schafen ins Avers.

 

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Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert wanderten immer mehr Menschen aus dem Avers aus. Einige suchten ihr Glück als Zuckerbäcker in Europa. Andere zog es nach Übersee, wo sie vor allem in der Landwirtschaft tätig waren, die Männer als Melker, die Frauen als Mägde. 

 

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Beträchtlich war die Binnenwanderung: Spätestens mit der Einführung der Niederlassungsfreiheit (1848) liessen sich manche in andere Regionen der Schweiz nieder. Schon vorher finden sich Spuren von Ausgewanderten, etwa der Hinweis, wonach die von der Hexerei angeklagte Trina Bärtschi Mitte des 17. Jahrhunderts als Spinnerin in Walenstadt gearbeitet haben soll. 

 

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Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Wegen der Abwanderung fehlten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Diese ersetzten vor allem im 19. und 20. Jahrhundert saisonale Arbeitskräfte aus dem Ausland: Mähder aus Italien und später aus der EU. Die Alpwirtschaft käme heute ohne fremde Älpler und Sennerinnen schlecht zurecht. 

 

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Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Saisonal im Avers waren Forschende und sind es bis heute Touristinnen und Touristen.

 

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Foto: KHR

Temporär im Avers wohnten mehrere tausend Bauarbeiter aus Italien, die die Strassen bauten oder den Staudamm in Valle di Lei.

 

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Ohne Spezialisten wie Lehrerinnen und Pfarrer, die häufig von auswärts kommen, gäbe es keine Schule und keine Predigt. Ohne portugiesisches Personal in Gastbetrieben gäbe es kein Bier.

 

Kein Sonderfall

Die Geschichte der Migration im Avers ist vergleichbar mit der Schweizer und Bündner Ein- und Auswanderungsgeschichte. Analog zur Schweiz wanderte im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert rund ein Fünftel der Einwohner aus dem Avers aus: Bezogen auf die Schweiz suchten rund eine halbe Million Menschen ihr Glück anderswo, bezogen auf das Avers waren es rund fünfzig. Einige zogen in andere Regionen der Schweiz, andere, vorwiegend Männer, gingen nach Übersee. Ende des 19. Jahrhunderts kam es in der Schweiz und im Kanton Graubünden zu einer Kehrtwende: Erstmals war die Einwanderung grösser als die Auswanderung. Im Avers hingegen nahm die Bevölkerung – wie in anderen entlegenen Tälern des Kanton – weiterhin ab und pendelte sich ab zirka 1930 bei einer Einwohnerzahl von unter 180 Einwohnern ein.