Avner Wasser und Wässerchen

Die Nutzung der Wasserkraft ist in der Schweiz sehr hoch: Konkret werden laut WWF mehr als 95 Prozent des Potenzials genutzt. Der Kanton Graubünden spielt bei der Produktion eine wichtige Rolle, erzeugt er doch rund ein Fünftel des mit Wasserkraft erzeugten Schweizer Stroms.

Auch im Avers werden viele Wasser und Wässerchen für die Stromproduktion gefasst. So wird Wasser aus dem Avner Rhein oder aus Bächen wie dem Jupperbach ins Ausgleichsbecken Preda im Seitental Val Madris geführt und von dort über einen fünf Kilometer langen Stollen in den Lago di Lei. Dieser Stausee liegt in Italien, wird jedoch von einer zur Schweiz gehörenden Mauer gestaut. Die von der Kraftwerke Hinterrhein AG (KHR) betriebene Anlage wurde – wie die meisten Kraftwerke, Tunnels und Strassen in der Schweiz – vorwiegend von italienischen Arbeitern gebaut und 1963 eröffnet. Die Jahrzehnte zwischen 1950 und 1970 markieren einen Boom des Wasserkraftbaus. Die Wirtschaft brummte, und Themen wie Umweltschutz oder Atomkraft waren noch nicht auf dem Tisch.

1985 plante die KHR den Bau eines Stausees im Avner Seitental Val Madris. Es war nicht das erste Mal, dass Pläne für die Flutung des Madris gewälzt wurden. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg war zwischen Rheinwald und dem Avers ein ganzes Netz von Stauseen vorgesehen. Nach dem Krieg sprach man von zwei Stauseen: Einer hätte von der Egga bis zum Städtli gereicht, ein anderer hätte zwischen Preda und Sovräna gelegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dann ein kleines Projekt realisiert. Für die Speisung des Lago di Lei wurde das Ausgleichsbecken bei der Alp Preda gebaut. Die projektierte Unterwassersetzung des Val Madris hatte also Vorläufer.

Widerstand gegen «AKW-Filiale in den Alpen»

Konkret beabsichtigte die KHR im hinteren, zum Bergell gehörenden Teil des Val Madris den Bau eines Pumpspeicherwerks. In einem solchen System wird Wasser aus tiefer liegenden Becken hochgepumpt, dort zwischengelagert und erst dann turbiniert, wenn die Nachfrage gross und die Preise hoch sind. Das Konzept der Pumpspeicherseen ist unter anderem mit der Bandenergie von Atomkraftwerken verknüpft, die rund um die Uhr Strom produzieren. Also auch in Zeiten, in denen nicht so viel Strom gebraucht wird. Diese überschüssige Energie lässt sich fürs Hochpumpen gebrauchen. Der Journalist Jürg Frischknecht bezeichnete solche Kraftwerke als «AKW-Filialen in den Alpen».

Gegen dieses Modell der Energieerzeugung liefen im Val Madris Alpirten, Menschen aus dem Avers und Umweltschützerinnen Sturm. Im Fokus stand auch die Erhaltung einer eindrücklichen Landschaft: Die Umweltschützenden kämpften für den Schutz eines der letzten, wenig berührten Alptäler mit einer reichhaltigen Flora und Fauna. 13 Jahre lang wehrten sie sich sowohl mit juristischen als auch mit öffentlichkeitswirksamen Mitteln für die Rettung des Madris. So trieben sie etwa in Zürich Kühe und Ziegen zum Paradeplatz oder demonstrierten als Frösche verkleidet in Chur. 1998 wurde das Projekt begraben, aus zwei Gründen: Der Bundesrat mit der damaligen Umweltministerin Ruth Dreifuss hatte das Flachmoor im Val Madris unter nationalen Schutz gestellt, und die Rentabilität des Pumpspeichwerks war wegen der Stromschwemme nicht mehr garantiert.

Mit der aktuellen Energiekrise werden einst totgeglaubte Wasserkraftprojekte aus der Schublade gezogen und wieder belebt. – Wie wird es mit dem Val Madris weitergehen?

Moor im Val Madris. Foto: Kaspar Schuler